Die Geschichte des Wegsehens

Hallo meine Liebe, eigentlich waren wir ja gestern verabredet, ich weiß, aber ich habe es einfach nicht geschafft. Umso schöner ist es, dich heute sehen zu können! Ich hoffe doch sehr, dass du gut in die neue Woche gestartet bist? Komm, nimm Platz. Schnapp dir ein paar Kissen und eine Decke und einen Kaffee mache ich uns auch oder?

Weißt du worüber ich vor ein paar Tagen nachdenken musste?

Ich will dir mal eine Situation als Beispiel nennen:

du bist gerade bei einer Shoppingtour und willst deine Ausbeute an der Kasse zahlen. Die Dame an der Kasse ist super gestylt und ihre vollen Lippen hat sie mit einem knalligen Lippenstift in Szene gesetzt. Als sie dir den (wiedereinmal viel zu hohen) Betrags deines Einkaufs nennt, fällt dir auf, dass ihre vermutlich strahlend weißen zähne voller Lippenstift verschmirt sind. Würdest du es ihr sagen?

Kennst du diese Blockade, dieses eine Gefühl, was dich erst abwägen lässt, ob du sie darauf aufmerksam machst oder nicht?

Woran liegt das? Ich meine, du und ich wir wären doch auch froh, wenn wir nicht mit Lippenstift auf den zähnen durch die Weltgeschichte laufen würden oder?

Selbstverständlich möchte man nicht die Person vorführen oder ihr ein schlechtes Gefühl geben, aber fühlt sie sich nicht schlimmer, wenn sie von der arbeit nachhause kommt und den verschmierten Lippenstift auf ihren Zähnen sieht?

Ich versuche wirklich das Grundproblem hiervon zu verstehen. Warum haben so viele Leute vor dir an der Kasse bezhalt, ohne mit der jungen Frau zu sprechen? Sind wir zu sehr auf uns selbst fixiert? Sind wir einfach nur erleichtert nicht den schwarzen Peter gezogen zu haben? Frei nach dem Motto einen musste es ja treffen.

Meist ist es doch so, dass der Aufwand einem zu groß erscheint. Wohingegen der Aufwand es jemand anderem zu erzählen doch sehr gering erscheint. Das kann doch nicht der Lauf der Dinge sein?

Wir müssen uns auf keine höhere Stufe stellen und den Leuten sagen, dass ihr Mittagsessen ihnen noch in den Zähnen hängt, der Hosenstall nach dem Toilettengang immernoch sperrangelweitoffen steht, nein. Weil dir und mir ja auch genau diese Dinge passieren. Wenn einmal alle Menschen der Erde zur selben zeit gefragt werden, wem schonmal eins der oben genannten Dinge passiert ist, ich bin mir sicher es würden nur mit wenigen ausnahmen alle Hände nach oben gehen. (Diejenigen, die sich nicht melden sollten, die wollen uns sowieso nur verschaukeln.)

Also seien wir unserem Umfeld ein besserer Spiegel. Sag dem Herren im Bus doch einfach: " Sie haben da noch ein bisschen Puderzucker auf der Backe, das ist mir letzte Woche auch erst passiert!" Geteiltes Leid ist halbes Leid!

So, es ist ganz schön spät geworden. Ich hoffe der Kaffee hat geschmeckt?

Wir sehen und hoffentlich nächste Woche wieder, mach dir eine schöne Zeit.

Herzlichste Grüße,

Claudia